Wenn es Herbst wird in den Weinbergen von Jerez

Reben soweit das Auge reicht

Das Licht an diesem Morgen über den Weinbergen ist einfach magisch. Um sieben Uhr dämmert es bereits und Carlos verteilt im Weinberg seiner Finca El Ochavico die Bütten an die Helfer. Deutlich spendet der circa zehn Kilometer entfernte Atlantik noch angenehme Frische. Die braungebrannten und gegerbten Gesichter der Lohnarbeiter zeugen von einem Leben auf dem Campo ­– dem Feld.

Im Weinberg von Carlos arbeiten sie alle bereits in der zweiten Woche. Seine circa 14 Hektar große Finca gehört zum Flurstück Los Tercios, nordwestlich von Jerez. Seit 230 Jahren werden hier in fünfter Generation durchgehend Trauben angebaut. Weinberge, soweit das Auge reicht. Carlos ist eines von über 200 Mitgliedern der Cooperativa Vinícola Las Angustias. Die Rebstöcke der Sorte Palomino Fino stehen auf den regionaltypischen, stark kreidehaltigen Albariza-Böden, deren Weiß in der gleißenden Augustsonne das Auge blendet. Sie bieten für den Weinbau hervorragende Voraussetzungen, beispielsweise die Fähigkeit, Regenwasser optimal zu speichern. Denn Bewässerung ist hier seitens des Kontrollrats der Weinbaubehörde verboten. Aus den Trauben dieser weißen Sorte werden die Sherrys hergestellt, die hier ihre geschützte Herkunftsbezeichnung genießen.

Erfahrung und Schnelligkeit der Lesehelfer sind entscheidend, denn die Trauben müssen bei möglichst kühlen Temperaturen in der Kooperative ankommen, um eine vorzeitige, unkontrollierte Gärung zu verhindern. Wenn die Sonne gegen Mittag im Zenit steht, herrschen wieder Temperaturen über 40 Grad Celsius, dann ist Carlos´ Lese des Tages bereits zu Most gepresst.

 

Der Mosto ist wichtiger Teil der lokalen Kultur

Doch nicht jeder Wein, der hier gekeltert wird, findet seinen Weg in die Sherry-Fässer der gigantischen Bodegas im Zentrum der Stadt. Einen Teil der Trauben behalten die Weinbauern für den Eigenbedarf und machen daraus Mosto.

Auch auf der Finca La Carrandana von Juan, sechs Kilometer weiter östlich in der berühmten Großlage Macharnudo Alto, herrscht in diesen Tagen reges Treiben. Rund um sein Bauernhaus betreibt er neben dem Gemüseanbau für den Eigenbedarf zusätzlich Weinbau. Auf vier Hektar stehen neben der Sorte Palomino Fino auch ein paar Rebzeilen Cabernet Sauvignon. In diesen Wochen hilft die ganze Familie mit, zusätzlich sechs Erntehelfer, ohne ginge es nicht. Auch Juan verkauft seine Trauben an die Kooperative, deren Mitglieder circa 1.300 der insgesamt 7.000 Hektar Weinberge der Region bewirtschaften. Einen kleinen Teil der Trauben verarbeitet auch Juan jedoch zu Mosto. Dieser junge Wein erfreut sich in den Wintermonaten großer Beliebtheit und ist der Grund, warum viele Städter im Herbst aufs Land fahren.

Mithilfe der mechanischen Spindelpresse, die sein Großvater schon zur Zeit des Bürgerkriegs bediente, gewinnt er zwei bis drei Fässer jungen Wein. Für 3,50 Euro zapft er Stammkunden den unfiltrierten Mosto direkt vom Fass in mitgebrachte Plastikflaschen.

 

Schwelgen in vergangenen Zeiten

Doch den Mosto genießen die Jerezaner nicht nur gerne zuhause, sondern vor allem auf den Terrassen traditioneller Landgaststätten, welche der Einfachheit halber ebenfalls Mostos genannt werden.  Bei Tagestemperaturen deutlich über 20 Grad lässt es sich gut aushalten. Der Campo, wie das weite Land hier liebevoll genannt wird, verkörpert das alte, ländliche Jerez.  Bis in die 1960er Jahre fand das Leben der Jerezaner weitgehend auf dem Campo statt. Wanderarbeiter zogen zur Weinlese von Finca zu Finca. Zu einem bescheidenen Bett und einer warmen Mahlzeit erhielten sie eine Ration jungen Wein.

Freunde der Familie im Mosto La Carrandana

Aus dieser Tradition entwickelten sich bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts Gastronomiebetriebe.

Noch heute werden dort traditionelle Speisen wie der Ajo Campero serviert – ein Arme-Leute-Eintopf aus Tomaten, Paprika, Brot vom Vortag, viel Knoblauch und Olivenöl.

Auf den alten Cortijos, den Höfen in den Weinbergen, ist die Zeit stehen geblieben. Erbaut ab dem 18. Jahrhundert strahlen sie immer noch den Charme des andalusischen Campo vergangener Zeiten aus. Die perfekten Orte zur Entschleunigung.

 

 

Von Improvisationstalenten und Szene-Gastronomen

Wer ihn finden will, benötigt ein Fahrzeug mit Vierrad-Antrieb, der den krumpeligen Albariza-Boden des alten Wirtschaftsweges bewältigen kann. Die Staubwolken hinter dem Fahrzeug lassen die drei Kilometer entfernte Stadt im Dunst verschwinden. Die Fahrt endet an einem Zaun vor einer Wellblech-Scheune, an dem an einen Stock ein ausgeblichener, roter Stofffetzen steckt. Eingeweihte kennen dessen Bedeutung, er weist den Weg zum ersehnten Mosto.

Der Cerro del Arte ist einer von Dutzenden Mostos. Die unscheinbare, niedrige Scheune steht neben einem bescheidenen Wohnhaus. Nachbarn gibt es dort oben keine. Neben der Feuertonne am Eingang döst ein ungepflegter Terrier im staubigen Schotterboden.

Miguel Ángel, Betreiber dieser Einrichtung, serviert im deutlich unter Spannung stehenden Feinripp-Unterhemd Karaffen mit frisch aus dem Fass gezapften Mosto. Dazu ein paar Oliven. Früher hatte er für sein Lokal eine Schanklizenz, mit Tischen und Speisekarte. Doch mit den steigenden Preisen hielt auch das Finanzamt immer mehr die Hand auf, was das Unternehmen unrentabel machte. Somit serviert Miguel Ángel nun an Freunde – und deren Freunde. Neben der Landwirtschaft und dem Verkauf seiner Trauben an die Kooperative verdient er sich so ein kleines Zubrot.

Hinter dem Tresen sieht man die alten Fässer stehen, zwischen urtümlichem Gerät und Heiligenbildern. Im Hintergrund läuft eine Quiz-Show im Fernsehen.

 

Lesebütten im Hof des Cortijo La Sacristía de Santa Teresa

Lesebütten im Hof des Cortijo La Sacristía de Santa Teresa

 

Etwas weiter entfernt, im Cortijo La Sacristía de Santa Teresa geht es turbulenter zu. Auf der sonnigen Terrasse bekommt man kaum noch einen Sitzplatz, auch wegen der guten Küche. Das repräsentative Gehöft wurde Ende des 18. Jahrhunderts erbaut. Es zählt wegen seiner traditionellen und achtsam restaurierten Architektur und seiner ruhigen Lage zwischen Weinbergen, Orangen- und Grapefruitbäumen zu einem der schönsten Mostos. Betrieben wird er seit Kurzem von einem dynamischen Gastronomen der Jerezaner Bar Szene, was ihn zu einem beliebten Ausflugsziel macht.

 

Fiesta de Vendimia

Einen guten Eindruck von dem traditionellen Keltern vermittelt die Pisa de la Uva, die Anfang September die Fiesta de Vendimia einläutet. Sie findet 2023, erstmals wieder seit der Pandemie, vor der imposanten Barock-Kathedrale im Zentrum von Jerez statt. In folkloristischen Blusen und buntgepunkteten, langen Röcken stehen junge Frauen entlang der steinernen Freitreppe vor der Kathedrale. Aus geflochtenen Körben schütten sie weiße Trauben in einen großen Holzbottich – das Zentrum der Aufmerksamkeit hunderter Zuschauer. In dem Bottich stehen vier Männer in weißen Shorts und roter Bauchbinde und stampfen mit ihren Füßen die Trauben und stellen die traditionelle Pressung vergangener Jahrhunderte nach.

Ein mit Weinreben geschmückter Baldachin schützt die Männer vor der Sonne, die sie selbst um 21 Uhr noch ins Schwitzen bringt. Der lokale Fernsehsender überträgt live. Wenn das erste Rinnsal Most endlich aus dem Bottich tropft, steuert der Abend seinem Höhepunkt entgegen. Der Moderator im Sonntagsanzug preist feierlich die glückliche Weinlese und stellt, mit einem Lächeln Richtung Bürgermeisterin, das Programm der Fiesta de Vendimia vor, die seit Jahren zu einem echten Tourismusmagneten geworden ist. Bis zum 17. September finden etliche Events im Stadtzentrum, den Bodegas und den Weinbergen statt.

 

Im Weinberg ist die Stimmung gedämpft

Juan ist nicht zur Pisa de la Uva gegangen. Ihm ist nicht zum Feiern zumute. Der hagere Mann sitzt auf seiner Terrasse, weit weg vom Trubel und schaut besorgt Richtung Weinberg. Ihm macht der Klimawandel zu schaffen, wie fast allen Weinbauern in dieser südlichsten Weinbauregion Europas. Wenn er von dem spärlichen Regen in diesem Jahr berichtet, was zu kleineren Beeren und niedrigeren Erträgen führt, schwingt etwas Resignation mit. Auch in diesem Jahr startete die Lese wieder früher als im Vorjahr, bei noch heißeren Temperaturen. Zusätzlich sinken die Preise für die Trauben, bei steigenden Kosten für Löhne und Pflanzenschutzmittel. Juans Nachbar hat sich zum Roden seines Weinbergs entschieden und Olivenbäume gepflanzt. Er ist nicht der Einzige, der sich davon mehr Rentabilität verspricht.

 

Wind statt Wein

Seit einigen Jahren regt sich Protest. Auf durch Rodungsprämien der EU geschaffen Freiflächen satteln manche Landwirte auf Mandeln oder Oliven um. Andere verkaufen an Investoren, die dort Photovoltaik- und Windparks anlegen. In den Augen vieler Winzer eine Schande für Spitzenlagen, die seit teilweise über 3.000 Jahren mit Wein bestockt werden.

Das Umschulungsprogramm des Agrarministeriums der andalusischen Provinzregierung soll Weinbauern und Landwirten Perspektiven in Zeiten des Klimawandels öffnen, falls sich eine Aufgabe des Betriebs aus ökonomischen Gründen nicht mehr verhindern lassen sollte.

Es ist die Improvisationskunst von Carlos, Juan und ihren Kollegen gefragt. Doch auf dem Jerezaner Campo lebt man eher im Hier und Jetzt. Und mit andalusischer Gelassenheit und Jerezaner Humor nimmt man die Dinge meist, wie sie sind. Bei einer Karaffe selbstgekeltertem Mosto im Kreise guter Freunde vertraut man darauf, dass es irgendwie weitergeht. Juan schaut in den Sonnenuntergang hinter den Weinbergen und freut sich, dass sein Mosto in diesem Jahr besonders gut geworden ist.

Weinberg in der Lage Carrascal, mit dem wellenförmig bearbeiteten Boden – dem aserpiado.

Weinberg in der Lage Carrascal, mit dem wellenförmig bearbeiteten Boden – dem aserpiado.