Wenn in Deutschland das Wetter nass und dunkel wird, beginnt in den Feldern und Weinbergen um Jerez eine der schönsten Jahreszeiten. Die Temperaturen pendeln immer noch um die 25 Grad, die Lethargie der heißen Sommermonate ist vorbei und nach einer erfolgreichen Weinlese blüht in Jerez eine alte und sehr liebgewonnene Tradition auf; die Zeit der Mostos. Wenn man diese Tradition kennenlernen möchte, sollte man sich am besten nachmittags ins Auto setzen und sich einfach durch die nördlichen Schotterpisten, irgendwo zwischen den Weinbergen Macharnudo, Corregidor, Cerro Viejo, Las Tablas, Añina oder Corchuelo treiben lassen. Wenn man an einem Cortijo, Bauernhaus oder Schuppen eine rote Fahne oder ein rotes Stück Stoff flattern sieht, kann man sicher sein, dort auf den berühmten Mosto zu stoßen. Der Mosto bildet das Rückgrat der Jerezaner Weinkultur, mit ihm fängt alles an, bevor der fertige Sherry in schicken Flaschen in noch schickeren Weingeschäften auf der ganzen Welt Genießer und Experten begeistert. Der Mosto verkörpert das alte, ländliche und rustikale Jerez. Durch ihn werden alte Cortijos wiederbelebt und ein guter Teil der Stadtbevölkerung zurück aufs Land geholt. Wenigstens für einen Nachmittag, um bei einer Karaffe Mosto und einem typischen Ajo Campero, einer Carrillá oder einer Berza den sonnigen Spätherbst zu genießen. Denn die Jerezaner lieben ihn ja schon sehr, ihren Campo und wollen das Resultat der letzten Lese probieren.
Der Mosto ist nicht wirklich mit dem deutschen Federweißen zu vergleichen. Streng genommen ist es der durchgegorene Grundwein aus der Traube Palomino Fino, bevor er mit Destillat verstärkt der Sherry-Produktion zugeführt wird. So jedenfalls steht es in den Sherry-Lehrbüchern. Doch es gibt auch noch den anderen Mosto, der gar nicht erst zum Sherry werden soll. Ein Sprichwort sagt „Por San Andrés el mosto nuevo vino es“. Dass also am Tag des Heiligen Andreas Ende November der Most zu Wein geworden ist, und mit seinen dann mindestens 9% vol. stabil genug, um den Winter als vino del año zu überstehen. Dazu muss es aber erst einmal ein paar kalte Tage gegeben haben. Dieser Mosto wird von Hunderten von kleinen und größeren Weinbauern hergestellt, die entweder Trauben an die Kooperative oder an Bodegas verkaufen, als kleine Almacenistas fungieren oder eben einfach den Mosto „de toda la vida“ herstellen. Diesen verkaufen sie a granel flaschen-oder fassweise, an private Weintrinker oder die großen Gaststätten auf dem Land, die keine eigene Weinproduktion haben, aber an einem Wochenende schon mal ein knappes Fass davon ausschenken.
Und der Einfachheit halber heißen diese Schankstätten dann auch gleich Mosto. Im Winter gehören Mosto-Besuche fast zum Wochenend-Pflichtprogramm der meisten Jerezaner. Sie sind eigentlich Saison-Gaststätten, die nach der Weinlese (September) beginnen und vor der Feria (Mai) wieder schließen. Einige haben auch das ganze Jahr geöffnet.
Meist sind es alte Gutshäuser, in denen früher die Weinlese koordiniert und die Trauben noch gepresst und vergoren wurden. Dort lagen die fertigen Weine oft bis zu einem Jahr in Fässern und warteten auf Käufer, die nicht immer kamen. Bis in die 50er und 60er Jahre zogen Wanderarbeiter als Lesehelfer aus der ganzen Region von Finca zu Finca, um als Tagelöhner bei der Lese zu helfen. Sie hatten dort ein Bett für die Nacht und eine warme Mahlzeit, dazu gab es den jungen Wein. Aus dieser Tradition entwickelten sich bereits zu Anfang des 20. Jhd. kommerzielle Betriebe. Zunächst mit einfachen Oliven und Aufschnitt als Begleiter zum Mosto, später dann als Großgastronomie, die ganze Scheunen füllt. Sehr bekannt sind San Cayetano, Cortijo Mosto Tejero und Corregidor, kaum mehr als 5 Min. vom Jerezaner Ortsrand entfernt. Toll gelegen und schön restauriert ist auch die neu eröffnete Sacristía de Santa Teresa.
Auf dem Parkplatz des Cortijo Mosto Tejero an der Carretera Trebujena rollen langsam die Autos der hungrigen Wochenendausflügler ein. Es ist Mitte Oktober, 32°C und wer nicht am Strand liegt, möchte nun endlich die Mosto-Saison wieder einläuten. Unter den roten Sonnenschirmen auf der gut gefüllten Terrasse werden Tische zusammengeschoben und Gruppen von Freunden, Familien oder Kollegen genießen es, sich dort in Ruhe kulinarisch verwöhnen zu lassen. Auf einem Sherryfass räkelt sich eine plüschige, schwarz-weiße Katze unter einem Olivenbaum am Eingang der Terrasse. Der charismatische und vor andalusischer Gastfreundschaft strotzende Gastgeber Juan Tejero begrüßt die Stammgäste und führt sie voller Stolz zu seiner äußerst appetitlichen Fischvitrine. So kann man´s aushalten. Wenn es später im Jahr auf der Terrasse schon zu frisch wird, lockt innen ein gemütlicher Kamin. Doch auch dort finden über 100 Gäste Platz.
Doch es gibt auch Kleinode, die gar nicht gekennzeichnet sind, weder mit roter Fahne noch mit einem offiziellen Schild. Die Betreiber sind so eine Art Dinosaurier des Landlebens, die gegen jede Modernisierung immer noch ihr Fähnlein archaischer Weingärung sprichwörtlich hochhalten. Es können alte Fincas sein, wo seit Generationen die Familie lebt und durch den Verkauf des Mostos ihr Auskommen sichert, nachdem die Ländereien geschrumpft und das Vieh abgeschafft wurde. So auch in der kleinen Finca la Carrandana, wo die fast buddhistische Zentriertheit ausstrahlende Paqui Sánchez (auch schon über 70) das Heft in der Hand hält und auch den Wein selbst macht. Mit ihrem weisen Lächeln unter der dicken rosa Bommelmütze zapft sie den Mosto aus den Fässern in kleine Karaffen und setzt sich zu mir auf die Terrasse. Dazu ein paar Oliven, Wurst oder irgendwas Eingelegtes. Früher war die Carrandana mal ein ordentlicher Gastronomiebetrieb, mit offiziellem Terrassengeschäft, warmer Speisekarte und geregelten Öffnungszeiten, doch mit der Krise kamen auch das Finanzamt und die Gesundheitsbehörde, welche plötzlich von jeder dieser Gaststätten ordentlich Steuern verlangten. So ging man auch in der Carrandana wieder zurück zum alten Stil; Ausschank an Freunde und Leute die man kennt, ohne viel Schnickschnack. Dies ist einer meiner liebsten Orte, um einen wirklich guten Mosto zwischen bereits liebgewonnenen Omis und Opis zu trinken, während diese mir Geschichten aus den 50er Jahren erzählen, als auf dem Campo noch das Leben tobte und jeder Jerezaner irgendwie in die Weinkultur involviert war. Und die nun älteren Herren noch jung und knackig waren, wie sie mich mit einem Zwinkern gerne wissen lassen. Da sitze ich dann nun zwischen zahlreichen Weinfässern, Käfigen mit Kanarienvögeln, Schaukelstühlen und Heiligenbildchen vor dem über 100 Jahre alten Bauernhaus zwischen Hühnern und Freunden der Familie, die wohl schon seit 70 Jahren zum festen Bestandteil des Etablissements gehören.
Der Mosto Cerro del Arte ist ein weiteres Highlight. Eigentlich eine langgezogene Wellblechscheune, auf der einen Seite Mosto mit improvisierter Bar, Feuertonne und von den Dachbalken zum Trocknen aufgehängten Tomaten, auf der anderen Seite die Lagerhalle für Traktoren, Werkbank und Plumpsklo. Dorthin kommt man nachmittags gerne auf ein Gläschen, da dies auch oft ein Ort für authentischen Flamenco-Gesang ist. Und zwar den der alten Männer vom Land, die durch ihre Gesänge von Leid und Liebe, aber auch Schelmereien und Schmerz ein ganz besonderes, zeitloses Gefühl vermitteln. Und so vergeht die Zeit und aus einem Gläschen werden mehrere Karaffen und man hat ein bisschen Mühe durch die unbeleuchteten Albariza-Pisten zwischen den Reben seinen Weg zurück in die Stadt zu finden. Zurück in die Gegenwart.