El Rocío - eine Zeitreise auf Andalusisch

Wenn man Fotos von der größten spanischen Wallfahrt sieht, fühlt man sich in allen gängigen Klischees über Andalusien bestätigt. Bei diesem Ereignis um Pfingsten scheint alles zusammen zu kommen, was man seit den 50er Jahren von spanischen Postkarten kennt; geschmückte Pferde, üppige bunte Kleider bei den Damen, Trachten mit Sombrero und ledernem Beinkleid bei den Männern, mit Rüschen und Blumen übersäte Esels- und Ochsenkutschen, religiös-sentimentale Gesänge und klagende Gitarren. Aber all diese Bilder sind aus der Distanz nicht greifbar, ohne wirklichem Gesicht bleiben sie exotische Phantasie.

Mit Freunden und der Familie meines Mannes, treue Rocieros seit Generationen, nehme ich seit vielen Jahren an dieser wahrhaften Reise teil, die so dicht an Eindrücken und Ritualen ist, und zugleich so zeitlos, dass man vergisst, in welchem Jahrhundert man sich befindet, wären nicht auch mitten im Naturschutzgebiet die Handys allgegenwärtig.

In ganz Spanien gibt es Hermandades del Rocío, Bruderschaften, die sich viele Wochen auf diese beschwerliche Reise vorbereiten. Man bewegt sich zu Pferd, mit Kutschen, Ochsenkarren, Treckern, zu Fuß oder in Geländewagen durch die lange, mühsame Strecke hin zu dem gemeinsamen Ziel, der Virgen del Rocío. Höhepunkt wird der Besuch in der Wallfahrtskirche dieser Heiligen, um die sehnlichsten Wünsche zu erbitten, ihr zu danken oder um spirituelles Zwiegespräch zu suchen. Die Ursprünge der Virgen del Rocío sollen bis ins 13. Jh. zurückreichen, als Alfonso X „Der Weise“ seine Erfolge der christlichen Eroberung der damals maurischen Gebiete mit der Errichtung von Kirchen und Marienstatuen entlang der Eroberungs-Linie markierte. Die erste Wallfahrtskirche der Virgen del Rocío wurde 1755 beim Erdbeben von Lissabon zerstört und die Heiligenfigur in den Ort Almonte gebracht, wo sie angeblich unter einem Olivenbaum versteckt wurde. Ein Jäger soll sie dort gefunden und mitgenommen haben, doch am nächsten Morgen soll sie verschwunden gewesen und an ihrem Fundort wieder aufgetaucht sein. Daraufhin wurde ihr zu Ehren über diesem Olivenbaum die heutige Wallfahrtskirche errichtet. Der Olivenbaum soll angeblich seit fast 300 Jahren ohne Licht und Wasser unter dem Altar weiter wachsen, wozu allerdings schon sehr viel Vorstellungskraft gehört. Die Idee ist aber trotzdem schön.

Der Zug der Pilger ist ein wahres Farbenmeer, wie aus den kitschigsten Gipsy-Filmen. Gitarren und Gesang rund um die Uhr begleiten rund um die Uhr, ebenso genug zu Essen und reichlich Sherry. Noch keine 2 Kilometer von zuhause entfernt, wird der Manzanilla, Fino oder Amontillado eingeschenkt und man kommt mit dem Singen von Sevillanas schon mal in Stimmung. Gute Laune, Geselligkeit und Gastfreundschaft regieren nun die nächsten eineinhalb Wochen und so manches Techtelmechtel bahnt sich an. Wer bei dieser Wallfahrt besinnliche Ruhe, puritanische Einkehr oder faden Katholizismus erwartet, dem sollte diese Wallfahrt nicht empfohlen werden.

Aus allen Himmelsrichtungen ziehen nun also die Pilger los zu dem kleinen, auf Sand gebauten Dorf El Rocío in der andalusischen Provinz Huelva. Schon seine wunderschöne Lage an einem Marsch- und Weideland, angrenzend an den Parque Nacional de Doñana – oder auch Coto de Doñana genannt - wirkt auf so manchen Pilger nach beschwerlichem Marsch wie eine Erscheinung. Seine weiße Wallfahrtskirche mit dem muschelförmigen Eingangsportal ist über die kleinen Salzwasserseen und Wiesen hin weit sichtbar. Dieser Weg durch den Parque Nacional de Doñana, welche der offizielle Weg der Bruderschaft von Jerez ist, ist sicherlich einer der schönsten nach El Rocío.  Die Jerezaner setzen zu Beginn in Sanlúcar de Barrameda per Fähre auf das andere Ufer des Flusses Guadalquivir über, wo La Doñana beginnt. Ab dort gibt es keine befestigten Wege mehr, nur noch ca. 50 km lose Sandpisten, Dünen, Pinienwälder und Trampelpfade zwischen wildem Rosmarin, Brombeeren, Heidekraut und Levkojen. Der gesamte Nationalpark ist unbewohnt, daher gibt es weder Infrastruktur noch Strom, nur wilde Natur. Nicht selten begegnet man Rehen und Hirschen, Wildschweinen und Füchsen, die von dem Duft der zahlreichen Picknicks angezogen werden und für einen Moment ihren Instinkt der Skepsis gegenüber dem Menschen vergessen, vor lauter Wohlgeruch nach Tortilla, Schnitzeln, Käse und Gambas. Das Betreten des Nationalparks hat etwas sehr Erhabenes. Man spürt, es ist kein „Menschen-Land“, sondern dass sich dieses Paradies aus der Interaktion von Pflanzen, Tieren und Kosmos geschaffen hat, ohne sich um irgendeinen „Nutzen“ für den Menschen zu kümmern. Daher wirkt diese Landschaft so zeitlos.

Der Weg durch den Coto de Doñana dauert ca. 3-4 Tage. Die Pilger schlafen nachts in oder unter den Kutschen, auf den präparierten Dächern der Geländewagen, unter Bäumen oder in Zelten. Die Wucht der Natur wird morgens sichtbar, wenn sich der Dunst der nahen Gewässer verzieht und die Abdrücke von Fuchstatzen, Kuh- und Wildschweinhufen sowie anderen Spuren gefährlich nahe am Schlafplatz enthüllt. Man spürt, man ist in diesem weiten Gelände nur störender Gast, der höchstens für ein stibitztes Sandwich gut ist, ansonsten aber eher überflüssig.

Bis auf wenige streng kontrollierte Routen und Lizenzen pro Jahr ist der ca. 60.000 Hektar große Park ein Stück wilde Natur, wo die Gesetze der dort lebenden Tiere herrschen und auch die letzten wildlebenden Iberischen Luchse streng geschützt werden. Jede Person und jedes Fahrzeug braucht eine schriftliche, zeitlich begrenzte Genehmigung der andalusischen Provinzregierung, um den Park zu der Pilgerreise betreten zu dürfen. Um in diesen Genuss zu kommen, muss man Mitglied der Bruderschaft seiner jeweiligen Gemeinde sein. Daher trifft man unterwegs auch keinen einzigen Touristen, sondern nur waschechte Rocieros.

Von morgens früh bis spät nachts wird gesungen, getrunken, gegessen, musiziert, gelacht und sichtlich Spaß gehabt. Doch all das, was eher nach einer riesigen Party anmutet, ist durchaus eine hochspirituelle Erfahrung und vollgepackt mit religiösen Ritualen. Es klingt durchaus gegensätzlich, ist es aber nicht, wir sind ja schließlich in Andalusien und hier wird alles nicht so verbissen gesehen. Seinen Spaß und seine Geselligkeit lässt sich der Andalusier nicht nehmen. Daher braucht man sich auch nicht wundern, wenn man zwischen den Singenden und Feiernden spät nachts noch den Priester mit einem Gin Tonic in der Runde sitzen sieht und am laufenden Band Witze erzählen hört, die meisten sind nicht jugendfrei.

Es gibt ein riesiges Repertoire an traditionellen Rocío-Liedern, die entweder einzeln oder auch oft im Chor gesungen und mit der Gitarre begleitet werden. Die Lieder ähneln in ihrer Struktur den Sevillanas, sind aber langsamer und emotionaler. Bei den Texten handelt es sich um Huldigungen an die Virgen del Rocío, die Einzigartigkeit des Coto de Doñana, romantische Erinnerungen, spirituelle Erlebnisse oder den Wert von Familie und Freunden. Die Stücke sind sehr romantisch und die Interpreten legen soviel Kraft und Zärtlichkeit in ihren Gesang und ihr Spiel, dass sie selbst oft wie in Trance fallen oder zu weinen beginnen. Tränen vor emotionaler Überwältigung greifen durchaus auch auf die Zuhörer über.

Jeder Tag der Pilgerreise hat seine religiösen Zusammenkünfte. Es gibt Messen unter freiem Himmel auf improvisierten Altären, doch der Priester trägt Sutane, reicht Hostien und polierte Silberkelche mit Wein. Jede Bruderschaft hat in ihrer Heimatstadt eine Kirche, die den simpecado, die Heilige Standarte mit Wappen der Bruderschaft beherbergt. Diese Standarte kommt mit auf die Reise, wird unterwegs von einem geschmückten Eselskarren gezogen und gehütet wie ein Augapfel, zumal sind es wertvolle Antiquitäten. Der simpecado gibt unterwegs auch den Rhythmus an, nach ihm richtet sich die Ordnung des Pilgerzuges, kein Ritual beginnt, bevor er nicht eingetroffen und seinen Platz eingenommen hat. Diese 3-4 Tage des camino – des Pilgerweges durch den Nationalpark – verbringen die Pilger mit Laufen, Reiten, Rasten unter Pinien, Picknicks mit Freunden, Sammeln des fast heilig geschätzten Rosmarins - den jeder an seinen Wanderstock bindet um Glück zu bringen -, Trinken von reichlich Alkohol, Singen und Freunde und Bekannte begrüßen, die aus anderen Richtungen unterwegs dazu stoßen. Viele Freundschaften haben sich über die Jahre zusammen geschweißt, doch oft sieht man sich nur einmal im Jahr um diese Tage miteinander zu verbringen. Das Zusammenleben ist auf dieser Wallfahrt sehr intensiv, man muss sich in seinen Bedürfnissen auf das Wesentliche reduzieren; die Nachtlager decken die Grundbedürfnisse, die Waschgelegenheiten beschränken sich auf mitgebrachte Wasserflaschen, es gibt kaum Rückzugsbereich. Es gibt nur die Gruppe, welche sich mit ihrem gemeinsamen Ziel durch die überwältigende Natur kilometerweise durch wadentiefen Sand vorwärts kämpft. Wer körperlich erschöpft ist, findet jedoch immer Gelegenheit, auf einer Kutsche ein Stück mitgenommen zu werden. Bevor man zum Sitzen kommt kriegt man von dem beschwingten Grüppchen meistens schon ein Gläschen Manzanilla in die Hand gedrückt, selbst wenn man die Leute gar nicht kennt. Die Bruderschaften bleiben bis zum Eintreffen in El Rocío meistens unter sich, auch wenn sie unterwegs oft mit 2-3 weiteren Bruderschaften den Weg teilen.

Im Dorf El Rocío angekommen, oft spät nachts, versorgen wir zuerst unsere Pferde und wer vor Müdigkeit nicht umfällt setzt sich mit den anderen und reichlich Wein und Häppchen erst mal auf die Veranda oder springt unter die heiß ersehnte Dusche. Das Dorf wirkt original wie eine Westernstadt, mit Sandstraßen, Stein- und Holzhäusern mit Veranda davor, Schaukelstuhl und Holzpflöcken, an denen die Pferde angebunden werden.Unsere ca. 25 Personen-starke Gruppe (sog. Peña Rociera) namens Pastora de la Marisma mietet jedes Jahr dort ein Haus mit Stallungen mitten im Ort. Doch auch jede Bruderschaft hat ein eigenes großes Haus, wo man sich als Mitglied um ein kleines Zimmer mit Stockbett bewerben kann. 

Wer nach der intensiven Pilgerreise nun Erholung erwartet, hat sich gehörig getäuscht. Erst einmal im Dorf angekommen, geht der Spaß so richtig los. Mittlerweile sind es über 200.000 Menschen. Es bricht ein wahrer Taumel an Ritualen, Emotionen und Spannung los in den nächsten Tagen. Es gibt Messen, mit den Priestern aller spanischen Bruderschaften zusammen, Rosenkranz- und Fackelläufe, das feierliche Einziehen der geschmückten Ochsenkarren jeder Bruderschaft. Das Präsentieren der Ältesten jeder Bruderschaft mit ihren Standarten, sowie der Reiter mit ihren Pferden am weit geöffneten Kirchentor vor der Heiligen Virgen del Rocío ist für mich immer einer der emotionalsten Momente. Selbst wenn von ca. 15.000 Pferden nur ein Bruchteil einzeln vor der Heiligen vorbeischreitet, dauert das den ganzen Tag. Mir kommen jedes Mal die Tränen, wenn ich auf meiner Stute vor der Virgen meinen Sombrero ziehe.

Der absolute Höhepunkt der Wallfahrt ist der salto de las rejas – der Sprung über das Gitter, von dem die Heilige Jungfrau auf ihrem Altar schützend umgeben ist. Dieses Ereignis findet nachts gegen 3 Uhr vom Sonntag auf Pfingstmontag statt. Die Kirche und der Platz davor sind schon Stunden vorher zum Bersten gefüllt. Wer keine Enge verträgt oder Angst hat, zerdrückt zu werden, sollte lieber in sicherem Abstand bleiben, denn dieses Ereignis ist mit höchster Anspannung und zum Teil groben Ellbogenhieben verbunden. Es geht dabei darum, dass männliche Jugendliche aus der Gemeinde Almonte, zu der das Dörfchen El Rocío gehört, an diesem besagten Gitter wie die Sardinen in der Dose stehen und sich zum Teil sehr aggressiv um den besten Platz prügeln, um auf ein "Zeichen" der Heiligen Jungfrau hin, was sich Stunden hinziehen kann, über das Gitter zu springen und die Heilige samt Sockel und Baldachin von ihrem Platz zu zerren und die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag über ein Meer von Menschen durch das ganze Dorf zu tragen. Man wird dabei unweigerlich an das sogenannte „Stagediving“ bei Rockkonzerten erinnert. Das Ritual ist ein sehr spannungsgeladenes Ereignis. Man kann sich um die Heilige Rocío durchaus ernste Sorgen machen, wenn diese Antiquität unter ihrem goldenen Baldachin zu stürzen droht, wenn sich ein halbes Dutzend Männer an ein Ende hängen und sie zu Boden zu zerren oder ihre Richtung zu ändern versuchen. Über die Köpfe unzähliger Fremder hinweg werden kleine Kinder und Säuglinge gereicht um sie durch Berühren der Heiligen oder ihres Baldachins zu segnen. Da alle sehr in Bewegung sind, geht es dabei oft sehr grob zu, und die meisten der Kleinen haben panische Gesichtsausdrücke und schreien wie am Spieß, denn von der guten Absicht hinter diesem traumatischen Erlebnis haben sie ja keine Ahnung.

Bei dieser „Wanderung“ der Heiligen Rocío durch ihr Dorf zieht sie an den Häusern aller Bruderschaften vorbei, wobei sich die jeweiligen Priester, auf Schultern der Mitglieder der Bruderschaft getragen, vor dem Haus aufbauen und die Jungfrau zu sich rufen. Ihr wird dabei ein Eigenleben zugeschrieben und ihre Laufbahn nicht den jeweiligen Trägern sondern ihrer reinen Intuition. Sie soll sich dabei so nah wie möglich an das Haus der Bruderschaft und den sichtbar aufgebauten simpecado annähern, was als hohes Anerkenntnis gedeutet wird.

Mit dem Ende dieses Rituals und der Rückkehr der Virgen del Rocio in ihre Kirche ist auch der Höhepunkt der Wallfahrt überschritten. Einige Pilger machen sich danach auf eigene Faust über die offizielle Landstrasse wieder auf den Weg nach hause, andere bleiben noch 1-2 Tage und die ganz Treuen gehen den selben Weg durch den Coto de Doñana wieder zurück nach Jerez oder in ihren Heimatort. Alle, die auch am camino de vuelta, dem Rückweg durch den Nationalpark teilgenommen haben, begleiten auch den simpecado zurück zu seiner Kirche. In Jerez ist es die Iglesia Santo Domingo. Dies ist das letzte gemeinsame Ritual. Man sieht müde Pilger, abgekämpfte Pferde, mit Sand und Staub bedeckte Geländewagen, wie gerade Heimgekehrte aus der Wüste oder vom Kampf für eine bessere Welt. Auch die auf dem Hinweg noch frisch frisierten und zurechtgemachten Damen haben nun schon deutlich an Glanz verloren. Es wirkt ein bisschen wie ein Trupp aus einer anderen Welt, der da durch die Jerezaner Fußgängerzone zieht, vielleicht wie Vorboten aus einer friedlichen Welt, in der es keine Missgunst, kein Geld, keinen Krieg und keine emotionale Kälte gibt. Die tapferen Maulesel, die den simpecado den ganzen Weg hin und zurück gezogen haben, werden nun auch vor den Toren der Iglesia Santo Domingo ihre Last los und ganz unspektakulär im Pferdeanhänger nach hause gefahren. Der simpecado kehrt an seinen Platz in der Kirche zurück und die Pilger fahren oder laufen ebenfalls nach hause, um nach soviel Abenteuer endlich wieder in ihre eigenen Betten zu fallen.